Die Pandemie-Krise und danach?

von Gastautor Prof. Dr. Thilo Hinterberger, Forschungsbereich Angewandte Bewusstseinswissenschaften, Abt. Psychosomatische Medizin, Universitätsklinikum Regensburg; Gesellschaft für Bewusstseinswissenschaften und Bewusstseinskultur e.V. (GBB e.V.)     

Wir freuen uns sehr, Ihnen liebe Leserinnen und liebe Leser, diesen Beitrag von Prof. Dr. Thilo Hinterberger zur Verfügung stellen zu dürfen. Einige von Ihnen kennen den Bewusstseinswissenschaftler bereits vom letzten Fachkongress des Europäischen Fachverbandes Klang-Massage-Therapie e.V. oder den Artikeln in der Fachzeitschrift Klang-Massage-Therapie (FZ):   „Klangindizierte und klangbegleitete Bewusstseinsprozesse“ (FZ 14/2019, S. 16-23) und „Klang und Transzendenz – eine neuropsychologische, physikalische und spirituelle Betrachtung“ (FZ 12/2017, S. 6-11).

Die Herausforderung

In dieser Pandemie hält die ganze Welt den Atem an in der Hoffnung, damit die Katastrophe abmildern zu können. Produktion, Reisen, Kongresse, Feste und freundschaftliche Treffen finden nicht mehr statt. Viele haben Angst um ihren Atem in der tödlichen Symptomatik von Covid-19. Doch der Atem ist ein altes Symbol des Austauschs, der Verbundenheit und der Lebenskraft. Und daher werden wir weiteratmen müssen, wissen aber noch nicht, wie. So stellt die derzeitige Lage für große Teile der Weltbevölkerung ein einzigartiges soziales Experiment dar, das unsere Psyche vor eine Reihe neuer Herausforderungen stellt. Es mag hilfreich sein, sich mit diesen gerade jetzt zu befassen, um eine Bewusstseinshaltung in uns zu kultivieren, die uns hilft, durch diese Zeit der großen Ängste und Ungewissheiten in einer positiven Haltung hindurchzugehen – besser noch, sie damit zu beleben. Hier nenne ich einige dieser Herausforderungen:

  • Während bisher die Katastrophenmeldungen aus den Medien meist weit weg unseres Alltags waren, sind wir diesmal alle unmittelbar betroffen. Wir können uns dem nicht einfach entziehen, sondern müssen uns zwangsläufig mit der Situation auseinandersetzen. Da die meisten von uns weder Krieg noch existenzielle Nöte erlebt haben, mag es für viele in besonderem Maße schockierend sein.
  • Das auf mehreren Ebenen existenzbedrohende Ereignis kam recht rasch und unaufhaltsam, wir konnten uns weder darauf vorbereiten, noch können wir etwas dagegen tun. Solcherlei Erfahrungen haben traumatisierendes Potenzial und brauchen daher unsere Wachheit und Klarheit.
  • Vielschichtige Schicksalshaftigkeit. Jeder und jede ist auf seine/ihre eigene Weise betroffen. Wir sind dabei bei weitem nicht alle gleich, denn es gibt junge Gesunde und Geschwächte, zur Risikogruppe gehörende Menschen, es gibt finanziell gut abgesicherte und solche, die derzeit in große existenzielle Schwierigkeiten geraten, es gibt gut intakte Familien und Lebensgemeinschaften und sehr einsame Menschen, und es gibt psychisch stabile Menschen und solche, die ein großes Angstpotenzial in sich tragen und darin großes Leid verspüren und schließlich gibt es die Personengruppe, die sich derzeit unter Einsatz ihrer Gesundheit um Bewältigung und Hilfe kümmert. Die Herausforderungen sind daher auch für jeden Menschen individuell.
  • Dennoch, in diesen Wochen der Kontaktsperre haben wir eine große Anpassungsleistung zu vollbringen. Wir müssen unseren Arbeitsmodus umstellen, Familie und Kinder zuhause beschäftigen, eventuell selbst unterrichten, alles auf Onlineangebote umstellen, etc.
  • Räumliche Enge. Die räumliche Einschränkung, besonders bei Familien, die in kleinen Wohnungen leben, führt vermehrt zu Konflikten, es gibt kaum Fluchtmöglichkeiten. Aber auch die Erlebnismöglichkeiten in den eigenen vier Wänden sind begrenzt und werden meist durch Fernsehen und Internet auf passive Weise kompensiert. Dabei geht es darum, den ebenso eng gewordenen Bewusstseinsraum zu weiten.
  • Soziale Isolation. Der soziale Rückzug ins Private bewirkt trotz medialer Vernetzung für viele eine soziale Isolation. Denn die Intensität der digitalen Begegnung ist nicht dieselbe wie die eines persönlichen Treffens. Dabei bräuchte es gerade in Zeiten von Angst und Not diese Intensität von Nähe und Gemeinschaft. Auch können Spiritualität und Religiosität eine veränderte Bedeutung erhalten.
  • Durch den Verzicht auf öffentliches Leben, auf soziale Veranstaltungen, Feste und Ereignisse entgeht uns die lebensspendende Qualität des Feierns, der Begegnung, der Reichtum sozialen Erlebens. Viele müssen lernen, sich selbst genug zu sein oder mit sich etwas anzufangen und die Lebensfreude aus sich selbst heraus zu schöpfen. Das ist eine hohe Kunst, die von Menschen in Quarantäne abverlangt wird.
  • Viele werden mit existenziellen Ängsten konfrontiert, die auch durch frühere Traumatisierungen getriggert werden können.
  • Die über mehrere Wochen oder auch Monate anhaltende Ungewissheit in der Entwicklung, sowohl privat, sozial, beruflich und wirtschaftlich ist ein Dauerstress, den viele nicht gewohnt sind und der zu psychosomatischen Beschwerden führen kann.

So befinden wir uns in den ersten Wochen dieser außergewöhnlichen Zeit in einer Anpassungsphase an einen neuen Lebensstil und neue Rollen, die da reichen vom Katastrophenhelfer bis zum zurückgezogenen Eremiten.

Praxistipps zu Resilienz und Psychohygiene

Um diese Anpassung zu vollbringen möchte ich einige Tipps geben, die uns ganz praktisch helfen können, eine resiliente Bewusstseinshaltung zu kultivieren:

  • Mediale Desinfektion. Seien wir sparsam mit dem Konsum von Katastrophenberichterstattung. Vielleicht hilft auch, jeden zweiten Tag nur die Entwicklungen zu verfolgen. Meist verpasst man dabei nichts.
  • Relativierung der Dramatik. Die derzeitigen Maßnahmen sollten wir zur Verzögerung der Ausbreitung verstehen, um unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten und vielleicht weniger als Indiz für eine übergroße Bedrohung des eigenen Lebens. Dennoch, es scheint wichtig, die Maßnahmen einzuhalten, um Menschenleben zu retten.
  • Positives Mindset. Machen wir uns positiv formuliert auch klar, dass wir, falls wir mittleren Alters und gesund sind, eine Erkrankung mit Corona mit etwa 99%iger Sicherheit überleben werden. Falls wir zur Risikogruppe gehören, müssen wir sowieso sorgsam mit uns umgehen.
  • Genussfähigkeit. Auch eine Zeit großer Einschränkungen braucht genügend Augenblicke des Genusses. Dies kann sein gemeinsam Lachen, Musik hören oder selber machen, singen, schöne Literatur, etc.
  • Weitung des Innenraums. Wenn die äußeren Räume klein und eng geworden sind, dann gilt es, den ebenso verengten Bewusstseinsinnenraum zu weiten. Dies kann z.B. durch Meditation, Phantasie, Lesen, Spielen oder Tanzen geschehen.
  • Kreativität. Machen wir uns kreative Gedanken, Planen die Zukunft oder arbeiten bereits jetzt an etwas Kreativem. Gerade jetzt ist es wichtig, in der Not erfinderisch zu werden und neue Wege der Sozialisation zu versuchen. Glücklicherweise unterstützen uns hier die Möglichkeiten der digitalen Medien immens.
  • Achten wir auf einen gesunden Lebenswandel. Soweit möglich ist Bewegung an der frischen Luft wohltuend für Körper und Psyche. Verbinden wir uns mit der Natur und dem Frühlingserwachen.
  • Gute Kommunikation. Versuchen wir, jeden Tag mindestens ein gutes Gespräch zu führen. Vielleicht ist jetzt die Zeit, an alte Freundschaften wieder anzuknüpfen.
  • Freunden wir uns mit der Situation und dem Virus bereits jetzt an. Da am Ende sowieso die meisten Menschen Bekanntschaft mit Corona machen, lohnt es sich, bereits jetzt eine positive Beziehung zum Virus herzustellen. Vielleicht betrachten wir es einfach als Teil des Lebens, wie wir es mit den vielen anderen Bakterien und Viren bisher auch gemacht haben.
  • Spiritualität. Es ist aber auch die Zeit, uns mit unserer Endlichkeit auseinanderzusetzen. Geben wir dem Thema Raum und versöhnen wir uns mit Leben und Sterben. Versuchen wir, unser eigenes Leben als Teil von etwas Größerem zu betrachten.
Das Dilemma

Ein unerwünschter Nebeneffekt der gegenwärtigen Maßnahmen zur Distanznahme ist nicht nur der persönliche Verzicht auf leibhaftige Begegnungen und soziale Freizeitgestaltung, sondern für viele auch eine finanzielle und existenzielle Bedrohung. Wenn jedoch die äußeren Lebensbedingungen in Gefahr geraten und instabil werden, wenn wir entwurzelt werden, dann ist Nähe und Gemeinschaft ein wesentliches Element, um psychisch Halt und Unterstützung zu erfahren. Doch das wird derzeit durch die Notwendigkeit des Distanzgebotes erschwert und so sind diese Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. So verständlich die Maßnahmen der Distanznahme aus epidemiologischer und medizinischer Sicht sind, so fatal und gefährlich sind sie für unsere Psyche und psychophysische Gesundheit und die Immunabwehr. Der Staat tut mit Soforthilfen was er kann, aber die Anpassungsleistung an die neue Situation muss jeder selbst vollbringen. Wohl denen, die eine starke häusliche Gemeinschaft haben und glücklicherweise sind die meisten digital gut vernetzt. Wer dies nicht hat, muss umso dringender auf andere Ressourcen wie oben beschrieben zurückgreifen. Es ist also eine mehrfache Krise, sowohl der privaten und kollektiven existenziellen Sicherheit, der sozialen Verbundenheit als auch der individuellen Anpassung und inneren Neuorientierung.

Und hier kommt das zweite, zukünftige Dilemma. Sehr wahrscheinlich dauert die derzeitige Situation noch einige Zeit an. Und wenn ein neues Verhalten über mehrere Wochen oder sogar Monate praktiziert wird, dann wird es zur Gewohnheit. Und so könnte ein tragisches Programm kollektiv in den Menschen verankert werden. Es ist die Botschaft: „Hier draußen ist ein unsichtbares Virus, das überall lauert und unsere Gesundheit und Existenz bedroht. Jeder Mensch kann dieses Virus auf uns übertragen, daher müssen wir uns schützen.“ Die Mitmenschen werden zur potenziellen Gefahr und unser generischer Wunsch nach Begegnung wird ersetzt durch Skepsis und Angst vor Nähe. Wir sind in der Gefahr, eine hygienebedingt paranoide Grundhaltung zu entwickeln und üben daher bereitwillig die Distanz. Mitmenschen und Umwelt werden zu potenziellen Gefährdern. Dies erinnert an die Ereignisse von 9/11, seit denen die Menschheit durch die virtuelle aber scheinbar omnipräsente Gefahr von potenziellen Terrorakten in Angst gehalten wird. Hier geschah eine globale Traumatisierung, die ein kollektives paranoides Gesellschaftsgefühl zur Folge hatte. Dabei war die Zahl der Toten durch Terrorismus verglichen mit vielen alltäglichen Todesursachen minimal. Vermutlich übersteigen sogar die vorzeitigen Tode durch Terrorangst die terroristischen Tötungen. Und heute, in der Corona-Krise machen viele eine existenziell traumatisierende Erfahrung, indem sie erleben, dass sich das Leben plötzlich in unberechenbarer und unbeherrschbarer Weise gegen sie richtet, gesundheitlich, finanziell und/oder sozial. Diesen an sich lebensfeindlichen psychischen Stresstest müssen wir uns derzeit zum Schutz von Menschenleben unterziehen, ohne zu wissen, wie wir selbst daraus hervorgehen. Es wird spannend werden, im kommenden Jahr die Übersterblichkeit der Bevölkerung zu erfahren, die nicht auf eine Covid-19 Infektion zurückzuführen ist, sondern unter anderen auf psychosomatische Ursachen.  Wenn wir also zu einem menschenwürdigen Leben zurückehren wollen, dann müssen wir in den kommenden Monaten auch lernen, wieder frei von Angst und Misstrauen dem Leben, den Mitmenschen und unserer Umgebung gegenüber zu werden. Wir stehen hier vor einem echten Dilemma, denn das Virus und vielleicht auch andere Viren werden uns noch längere Zeit begleiten.

Welches Bewusstsein löst das Dilemma?

Zunächst einmal gibt es die rationalen, faktenorientierte Zugänge der Bewältigung, die uns zur Besonnenheit aufrufen. Es kursieren glücklicherweise bereits viele Beiträge, die keine Fake-News sind, und dennoch die Thematik in ihrer Dramatik relativieren. Durch das Betrachten der vielen Aspekte und die Konfrontation mit den Fakten werden wir vertraut mit der Situation und sie verliert den Schrecken des Unbekannten. Allerdings stellt die tägliche Verfolgung exponentiell steigender Infektionszahlen ein perfektes Mittel dar, um Angst und Panik zu schüren und uns auf einem hohen Stresslevel zu halten, der auf Dauer mehr schadet als nützt. So ist es nicht sinnvoll, diese äußere Entwicklung als Zustand in unserem Bewusstsein stetig mit zu kultivieren und wir brauchen nicht die gesamte Last der Welt in uns tragen. Hier gilt es, zum eigenen Schutz Grenzen zu ziehen und in uns Räume zu kultivieren, die sich zwar der menschheitlichen Lage gewahr sind, aber gleichzeitig viel Raum lassen für lebensbejahende Bewusstseinsinhalte.

Hier ist Vertrauen und Zuversicht essenziell. Für die meisten Menschen gibt es derzeit ein doppelt bis mehrfaches Risiko zu sterben, aber bisher leben viele auch mit dem einfachen Sterberisiko relativ unbesorgt. Dies zeigt, dass Vertrauen transrational ist und nicht allein auf Faktenwissen begründet werden kann. Vielmehr ist Vertrauen ein psychisches und physisches Erleben. Ja, wir haben weitgehend unsere Lebensbedingungen mit den intellektuellen Fähigkeiten unseres Bewusstseins gestaltet. Jetzt gilt es zu erkennen, dass das Leben selbst durch ein höchst organisiertes und zugleich geheimnisvolles Zusammenwirken unzähliger Mikroorganismen entsteht und sich erhält. Wenn nun ein Virus am menschlichen Leben rüttelt, dann wird wieder deutlich, dass uns das Leben als Ergebnis dieser unglaublich vielfältigen Lebensvorgänge geschenkt ist. Daher sollten wir gerade in dieser Zeit dankbar sein für jeden Tag, an dem wir leben und wirken dürfen. Glücklicherweise ist das menschliche Leben ist so konzipiert, dass wir uns üblicherweise nicht vor den vielen innewohnenden und umgebenden Mikroorganismen fürchten müssen, solange ein paar Grundregeln der Hygiene einhalten werden. Das sollten wir nie vergessen, denn die Frage, wie viel hygienebedingtes Distanzbewusstsein auch nach der Krise unseren zwischenmenschlichen Umgang begleiten wird, ist noch offen. Möglicherweise müssen wir wieder neu das Vertrauen ins Leben lernen. Es ist die gesamtgesellschaftliche Kunst, Freiheit und Verantwortung, Verbundenheit und Schutz in ein gesundes Wechselspiel zu bringen, ohne die Lösung nur auf einer Seite zu sehen. Und wenn wir genau hinschauen, so sind diese Diskussionen, dieses Abwägen, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik längst im Gange. Wir befinden uns in einem gesamtgesellschaftlichen Lernprozess mit offenem Ausgang. Und genau dieser Offenheit dürfen wir uns auch jetzt schon hingeben und können daher umso mehr kreative Impulse setzen, damit viele am Ende etwas lebensweiser aus der Krise hervorgehen.

Am Ende möchte ich noch einmal zum Anfangsgedanken, dem Atem zurückkehren. Unsere beschleunigte Zeit ist vergleichsweise kurzatmig geworden. Wenn wir also weiteratmen, dann sollten wir wieder auf einen natürlichen Atemrhythmus zurückkommen. In einer Studie haben wir die Besonderheit einer auf einen 10-Sekundetakt verlangsamte Atmung zeigen können. Daraus haben wir eine Übung mit zur verlangsamten Tiefenatmung entwickelt, die eine wohltuende Erfahrung sein kann: 3 Sekunden tief einatmen, 7 Sekunden tief ausatmen. Und dies über mehrere Minuten. Viel Freude damit!

Psychohygiene in der PandemieKontakt:

Prof. Dr. Thilo Hinterberger
Forschungsbereich Angewandte Bewusstseinswissenschaften
Abteilung für Psychosomatische Medizin, Universitätsklinikum Regensburg
Franz-Josef-Strauß-Allee 11, D-93053 Regensburg
Tel: +49 941 944 2748 oder +49 9404 957 9934
Email: Thilo.Hinterberger@ukr.de, Web: ab-wissenschaften.de

3 Gedanken zu „Die Pandemie-Krise und danach?

  1. Welch wunderbar umfangreiche Darstellung der momentanen Lage für alle Lebensbereiche. Die Erläuterungen bringen Klarheit in meine Gedanken und Impulse für die Zeit in der Krise und für das Leben danach. Vielen Dank für’s veröffentlichen.
    Mit den besten Wünschen
    Karen

    1. Liebe Karen, vielen Dank für deine schöne Rückmeldung und dass dir der Artikel neue Impulse gibt. Das freut uns und auch wir sind sehr dankbar dafür, dass Prof. Dr. Thilo Hinterberger ihn uns zur Verfügung gestellt hat. Entwickeln wir weiter unsere Klarheit in dieser besonderen Zeit, klangvolle Grüße, Katrin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert